Allgemeines

Vor der Einführung der chinesischen Schrift (sog. Kanji 漢字:Kan = Name einer chinesischen Dynastie, ji = Schriftzeichen) im Laufe des 5. Jahrhunderts, existierte in Japan keine Schrift. In der Anfangsphase nach der Übernahme dieser Kanji wurden in Japan Schriftstücke zunächst ganz nach dem chinesischen Vorbild (d.h. auch in grammatikalischer und syntaktischer Hinsicht) verfasst Zu diesem Zeitpunkt unterschied sich die geschriebene japanische Sprache somit kaum von ihrem Vorbild. Parallel dazu wurden Versuche unternommen, losgelöst von den syntaktisch-grammatikalischen Eigenheiten des Chinesischen, Kanji als Hilfsmittel zur schriftlichen Wiedergabe der bislang nur mündlich existierenden japanischen Sprache mit seiner vollkommen unterschiedlichen morphologisch-syntaktisch-grammatikalischen Struktur anzuwenden.

Die heute ca. 50.000 zählenden chinesischen Schriftzeichen, die meisten werden aber nur selten genutzt es werden allerdings rund 2000 benötigt um im Alltag aus zu kommen, sind bedeutungstragend, d.h. jedes Kanji besteht aus drei Komponenten:

  1. optisch wahrnehmbares Signal (= ein Gebilde aus Punkten und Strichen)
  2. akustisches Signal ( = ein Tonkomplex)
  3. Bedeutung

Da jedes einzelne Kanji somit auch zur Wiedergabe von einzelnen Begriffen (im weitesten Sinne) dient, spricht man hier von einer Begriffsschrift. [Jedes Zeichen unseres Alphabets besteht dagegen nur aus einem optischen und einem akustischen Signal und gehört zur sog. Lautschrift.] Hier eine Gegenüberstellung beider Schriftarten:

Alphabet
Kanji
optisches
Signal
akustisches
Signal

optisches
Signal
akustisches
Signal
Bedeutung

Beispielsweise wird der Begriff "BAUM" mit dem Kanji 木 dargestellt. Im Deutschen wird derselbe Begriff erst durch Aneinanderreihung von vier Schriftzeichen B-A-U-M, die einzeln betrachtet keine Bedeutung tragen, sichtbar gemacht.
Analyse:

optisches Signal
akustisches Signal
Bedeutung
B+A+U+M
[baum]
Holzgewächs mit Krone, Stamm und Wurzeln.

[ki]
Holzgewächs mit Krone, Stamm und Wurzeln.

Die Übernahme der chinesischen Begriffsschrift brachte der schriftlosen japanischen Sprachgemeinschaft verschiedene Probleme, da mit der Schrift, d.h. dem Japaner fehlenden Ausdrucksmittel, automatisch die gesamte fremde Lautform sowie die Begriffswelt mit ins Land einströmte.
Als eine Form der Adaption ist die Übernahme der chinesischen Schrift als komplette Einheit der drei genannten Komponenten zu nennen. Amtliche Schriftstücke (z.B. kaiserliche Erlasse) aus der ältesten Zeit bis hin zum Ende des 2. Weltkrieges wurden mehr oder weniger nach chinesischem Vorbild und zwar in Anlehnung an ihre Grammatik abgefasst, vergleichbar mit dem Gebrauch des Lateinischen bei ebensolchen Schriftstücken im Abendland. Im Laufe der Zeit erfolgte jedoch eine Abwandlung des akustischen Signals (d.h. Umwandlung der chinesischen Laute in eine für den Japaner aussprechbare Form.) Folgende Beispiele machen diesen Vorgang der Lautveränderung deutlich:

Schriftzeichen   chin. Laut     abgewandelter Laut   Bedeutung
  [shan]     [SAN]   Berg
  [sen]     [SHIN]   Wald
  [tian]     [TEN]   Himmel
  [feng]     [FUU]   Wind
  [di]     [CHI]   Erde
  [ren]     [JIN]   Mensch
  [hua]     [KA]   Blume

Die Gestalt und die Bedeutung der Schriftzeichen blieben dagegen weitgehend unangetastet. Parallel zu dieser Bemühung der Anpassung der Aussprache wurde bereits kurz nach der Übernahme der Begriffsschrift (geschriebene Sprache) versucht, jedes Kanji mit japanischen Lauten (gesprochene Sprache) zu versehen. Natürlich existierte in Japan auch vor der Berührung mit der chinesischen Kultur eine eigene gesprochene Sprache. So wurden beispielsweise die oben erwähnten Schriftzeichen zusätzlich zu den "pseudo-chinesischen" Lauten mit folgenden original-japanischen Lauten besetzt:

Schriftzeichen   japanischer Laut   Bedeutung
  [yama]   Berg
  [mori]   Wald
  [ama]   Himmel
  [kaze]   Wind
  [tsuchi]   Erde
  [hito]   Mensch
  [hana]   Blume

Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass keine Ablösung der genannten umgewandelten chinesischen Laute (san, shin, ten etc.) durch japanische Laute stattfand: Seitdem existieren daher in der japanischen Sprache für jedes Kanji im Prinzip zwei Lesemöglichkeiten:

  1. ein aus dem Chinesischen stammender und an die phonetische Eigenheit der japanischen Sprache angeglichener Laut (sinojapanische Lesung bzw. on-Lesung 音読み)
    Auf diese Weise werden die meisten Kanji-Komposita gelesen.
  2. der seit der schriftlosen Zeit existierende rein japanische Laut (japanische Lesung bzw. kun-Lesung 訓読み)
    Diese Lesung haben z.B. die meisten Verbstämme.

Da das Kanji kein Produkt einer künstlichen Sprache ist, können wir leider hieraus keine Systematik wie "pro Kanji je eine on- und eine kun-Lesung" ableiten. So besitzt zwar jedes Kanji mindestens eine on-Lesung (in der Umschrift zumeist durch Großbuchstaben gekennzeichnet), aber nicht unbedingt eine kun-Lesung. Es existieren jedoch bei einigen Kanji auch mehrere kun-Lesungen, z.B.: 家 (Haus) on-Lesungen: 1.KA, 2.KE und kun-Lesungen: 1.ie, 2.ya; Die Übernahme der chinesischen Begriffsschrift brachte auch in grammatikalischer Hinsicht Probleme mit sich. Chinesisch ist (wie etwa Tibetisch u. Thailändisch) eine sog. isolierte Sprache. Bei diesen Sprachen stehen die grammatischen Worteinheiten (z.B. Nomen, Verb, Adjektiv) quasi bezuglos nebeneinander. Nur die Wortstellung im Satz und der Kontext dienen in der chinesischen Schriftsprache dieser Zeit als Indiz für Objekt oder Subjekt, Perfekt oder Passiv. ("Telegrammstil")

Japanisch dagegen ist (wie Finnisch, Türkisch oder Koreanisch) eine sog. agglutinierende Sprache. Bei diesen Sprachen kann der Informationsgehalt einzelner grammatischer Worteinheiten durch Auswechseln der Wortendungen nuancenreich verändert werden. Die chinesische Schrift eignete sich in diesem Sinne denkbar schlecht zur Wiedergabe aller Bereiche der japanischen Sprache. So mussten die Japaner in Ermangelung anderer Möglichkeiten aus dem Bestand der Kanji bestimmte Zeichen zu einem Ersatz für diese im Chinesischen nicht existierenden Informationsträger definieren, um alle Nuancen der Sprache zur vollen Entfaltung bringen zu können. Als Notlösung wurde die ursprüngliche Bedeutung mancher Zeichen aufgehoben und die Zeichen zu grammatikalischen Indikatoren umfunktioniert. Losgelöst von ihrer ursprünglichen Bedeutung dienten somit einige Kanji nur noch als Mittel zur optischen Wiedergabe eines bestimmten Lautes. (Dieser Mischstil, bei dem manche Kanji als Bedeutungsträger und andere als grammatische Hilfszeichen benutzt wurden, findet zwar im heutigen Japan in dieser Form keine Anwendung mehr, stellt jedoch einen entscheidenden Schritt zur Bildung des eigenen japanischen Schriftsystems dar.)

Als dritte Bemühung im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Schrift, wurde parallel zu den genannten Schritten versucht, die Kanji konsequent von ihrer Bedeutung loszulösen und als eine Lautschrift wie etwa das Alphabet zu benutzen. Durch diese Abstrahierung (im Sinne einer Loslösung der Bedeutungskomponente) wurde die Grundlage geschaffen, eine der japanischen Sprache angemessene Orthographie zu entwickeln.

Im Laufe der Zeit hat sich eine begrenzte Anzahl bestimmter Kanji (ca. 50 Zeichen aus dem Gesamtbestand von ca. 50.000) herauskristallisiert, die immer wieder rein lautlich verwendet wurden. Der ständige Gebrauch dieser Kanji brachte eine allmähliche Vereinfachung der Zeichen mit sich (vgl. folgende Seite). Sie ließen sich nunmehr wesentlich schneller als die ursprünglichen Zeichen schreiben und deckten gleichzeitig alle (damaligen) Laute des Japanischen ab. Diese im frühen 9. Jahrhundert entstandene Schriftform wird Kana 仮名 genannt. Vergleichbar mit unserem Alphabet, geben die Kanazeichen nur Laute wieder und besitzen einzeln betrachtet keine Bedeutung. Das Kana besteht heute aus 46 Grundzeichen und weiteren 29 zusätzlichen Zeichen, die etwa unserem Umlaut entsprechen, d.h. die mit Hilfe von Zusatzsymbolen zu neuen Zeichen erweitert wurden. (So wie ein deutsches ü aus dem Grundzeichen u abgeleitet und mit dem Symbol ¨ versehen wurde, hat man z.B. ein Kanazeichen バ aus der Kombination von ハ und dem Symbol ゛ entwickelt.)

Ebenfalls vergleichbar mit unserer Groß- und Kleinschreibung lassen sich die Kanazeichen auf zwei verschiedene (im Übrigen historisch unabhängig voneinander, aber fast zeitgleich entstandene) Weisen schreiben:

Das Hiragana ひらがな, das heute ca. 50% eines japanischen Textes (z.B. die Tageszeitung) einnimmt, ist eine Schriftform, deren Entstehung auf das schnelle Schreiben der lautlich verwendeten Kanji mit dem Pinsel zurückzuführen ist und sich heute noch durch seine ausgesprochen geschwungene, rundliche Gestalt auszeichnet.

Das Katakana カタカナ ist eine Schriftform, die durch Entnahme eines Teilstücks eines lautlich verwendeten Kanji entwickelt wurde. Für diese Schrift kennzeichnend ist ihre eckig anmutende Form. Der heutige Anteil von Katakana in Schriftstücken ist relativ gering (unter 6%).

Möglicherweise erkennen Sie ohne jede Vorkenntnisse des Japanischen, allein durch Ihre visuellen Fähigkeiten den Unterschied zwischen manchen Hiragana- und Katakanazeichen. Insbesondere bei den Zeichen ka, ko, se, ya, re und ro dürfte das möglich sein:

Umschrift   Hiragana   Katakana
ka    
ko    
se    
ya    
re    
ro    

Im Folgenden werden alle Grundzeichen des Hiragana und Katakana seinen jeweiligen Urformen in der Reihenfolge des Silbenalphabets gegenübergestellt: Ursprung der Kanazeichen